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Kerstin Silverstone Kerstin Silverstone sitzt in ihrem Zimmer und denkt nach. Das passiert ihr in letzter Zeit öfter. Sie sitzt und denkt, nichts konkretes, aber es gibt Ungereimtheiten in ihrem Leben. Sie selbst würde es nicht Ungereimtheiten nennen. Sie kann es gar nicht benennen. Das Mädchen, welches ihr gerade den Tee brachte zum Beispiel. Es war so schnell wieder weg. Eigentlich wollte sie mit ihm ein wenig plaudern. Sie kennt es gar nicht, und es zahlt sich wahrscheinlich gar nicht aus, es kennen zu lernen. Sie wechseln so schnell, diese Mädchen, dass man sich kaum die Gesichter merken kann. Sie schauen alle irgendwie gleich aus in ihren schwarzen Kleidern mit den weißen Schürzen, aber diese neue hat sie, Kerstin, angesehen, anders als die anderen. Sie hat sie aufmerksam angeschaut, doch als Kerstin in ihr Gesicht blickte und ihr gerade eine Frage stellen wollte, hat sie so schnell wie möglich das Zimmer, besser gesagt ihren Salon, verlassen. Kerstin ist in ihrem Salon. Ihr großes Schlafzimmer mit dem Himmelbett ist durch die hohen geöffneten Flügeltüren zu sehen. Ihr Badezimmer und ihr Ankleideraum, die so geräumig wie der Salon sind, befinden sich neben dem Schlafzimmer. Die Tür zu den Räumen ist zu. Wahrscheinlich räumt das Mädchen, welches durch eine schmale Tür vom Korridor hinein kann, dort gerade auf. Kerstin weiß, würde sie jetzt in ihr Badezimmer gehen, würde sich das Mädchen auch von dort so schnell wie möglich diskret zurückziehen. Sie wurde wahrscheinlich so von Kerstins Mutter angewiesen und eingeschult, oder macht das die Haushälterin? Und die kennt Kerstin auch kaum, obwohl sie bereits seit zwei Jahren bei ihnen arbeitet. „Was habe ich heute vor?“, fragt sich Kerstin, und da ist es wieder, dieses leere Gefühl. Egal was sie macht, was sie vorhat, nichts macht ihr wirklichen Spaß. Das war früher anders. Sie ging zur Schule, freute sich auf den Unterricht und auf ihre Mitschülerinnen. Am Nachmittag hatte sie oft Besuch, oder sie ging in den Zirkus, in den Vergnügungspark, später zu Teepartys und noch später zu richtigen Partys. Sie hatte Klavierunterricht und sie begleitete ihre Mutter zu Freundinnen. Alles war so leicht, so einfach, so angenehm und so harmonisch. Obwohl sich äußerlich, außer dass sie jetzt sechzehn Jahre alt ist, nichts veränderte, und obwohl sie eine Familie und Freunde hat, spürt sie eine Leere in sich, die sie früher nicht kannte. Und anscheinend ist sie nicht allein damit, denn ihren Eltern geht es seit einiger Zeit auch so, oder war das schon immer, und es fiel ihr nicht auf? Was machen die eigentlich? Der Vater verlässt das Haus und fährt mit seinem Fahrer zur Arbeit. Die Mutter ist geschäftig im Haus. Sie arrangiert Blumen, gibt Anweisungen, bespricht das Essen oder die Gästeliste mit der Haushälterin, aber was macht sie sonst eigentlich? Ja, früher war sie auch mit ihrer Tochter beschäftigt, ging mit ihr in den Park, spielte mit ihr, las ihr vor. Sie haben noch immer gemeinsame Unternehmungen, heute zum Beispiel wollen sie zusammen einkaufen gehen, das heißt zuerst zu einer Modeschau, eventuell kaufen sie da schon ein, und dann zu dem Kaufhaus der Stadt, wo Kerstin am liebsten einkauft. Ihre Mutter findet dort selten etwas, aber sie fährt mit ihr trotzdem gern hin. Am Abend ist die Gartenparty bei den Wilsons, die regelmäßig stattfindet und wirklich sehr schön ist, mit der Band in den weißen Smokings, den Leuten in eleganter Abendkleidung, und Kerstin würde ihr neues Kleid tragen, das sie letzte Woche bei diesem neuen Designer bekommen hat, ein Traum, dieses Kleid, und eine Einzelanfertigung nur für sie. Aber Kerstin weiß selbst nicht, was mit ihr los ist, warum freut sie das alles nicht mehr? Und es ist ja auch nicht so, als würde ihr Leben nur aus Einkäufen und Partys bestehen. Sie arbeitet viel in der Schule und für die Schule, schließlich will sie nach dem Abschluss studieren und für ihre Uni braucht sie die besten Noten. Kerstin Silverstone schaut auf die Uhr. Es ist höchste Zeit. Ihre Mutter wird sie gleich rufen. Kerstin hatte Recht - als sie in ihr Ankleidezimmer kommt, verschwindet das Mädchen sofort mit einem „Entschuldigung, Madame“. Sie sagt Madame statt Mademoiselle, das fällt Kerstin auf. Die anderen haben sie Mademoiselle genannt. „Darling, bist du fertig?“ Die Mutter ruft aus Kerstins Salon. „Sie kam extra rauf“, denkt Kerstin. Das ist wirklich ungewöhnlich, denn normalerweise schickt sie das Mädchen, um Kerstin zu rufen, aber das Mädchen war anscheinend nicht da. Auf das Klopfen konnte Kerstin nicht reagieren, deshalb betrat die Mutter einfach den Salon. Als Kerstin fertig angezogen aus dem Schlafzimmer kommt, steht die Mutter in der Mitte des Raumes und blickt sich um. „Du brauchst neue Tapeten“, meint sie. „Vielleicht möchtest du auch anders möblieren, wir könnten bei Stocks vorbei schauen.“ „Aber Mama, die haben doch nichts Neues“, sagt Kerstin. „Vielleicht doch, wir sollten es versuchen. Hübsch schaust du aus.“ Kerstin wird von ihrer Mutter anerkennend gemustert. Kerstin selbst findet, dass sie sich von ihrer Mutter nicht sonderlich unterscheidet, und es ärgert sie plötzlich. „Warum muss ich auch dieses langweilige Kostüm anziehen?“, denkt sie und schaut an sich hinunter. Sogar die Schuhe ähneln den Schuhen der Mutter. „Oh du warst beim Friseur“, sagt die Mutter. „Ja, ich ließ mir die Haare ein ziemliches Stück schneiden, und ich hab sie aufgehellt, das war ein Vorschlag von Pinki.“ Pinki ist der Friseur, der beste der Stadt, und es ist wirklich nicht leicht, einen Termin bei ihm zu kriegen. „Er meinte, das schaue jetzt im Sommer irgendwie frischer aus.“ „Ja, da hat er wirklich recht, steht dir gut. Komm, gehen wir.“ Aber Kerstin fühlt sich plötzlich, sie weiß es selbst nicht, so lustlos, so gelangweilt. „Ich weiß nicht Mama, ob ich da überhaupt hin will zu dieser Modeschau. Ich habe das Gefühl, denen fällt nichts mehr ein, so als würden sie die Modelle der Vorjahre nur ein bisschen verändern und wieder über den Laufsteg trippeln lassen.“ „Ach komm schon, ich bin sicher, es gibt interessante Überraschungen, und außerdem treffen wir Betty und Isabell dort.“ „Das auch noch, wenn ich denen zuhöre, hab ich immer den Eindruck, es gibt nichts wichtigeres auf der Welt als diese Modeschauen. Ich halte das nur schwer aus.“ „Ich weiß nicht, was du meinst? Früher haben dir solche Sachen Spaß gemacht. Was ist denn mit dir?“ „Wenn ich das nur wüsste“, sagt Kerstin, aber sie folgt brav der Mutter, die schon beschwingt zur Tür raus geht. Als sie vor dem Eingangsportal steht, links und rechts von ihren Bodyguards flankiert, die sie abschirmen, weil gerade eine Gruppe junger Leuten vorbei geht, ihre Mutter schon im wartenden Wagen sitzt, weiß Kerstin ganz plötzlich, was sie so stört, denn am liebsten hätte sie sich den Menschen angeschlossen, die da gut gelaunt an ihr vorüber gezogen sind, sie nur kurz und eher desinteressiert angeschaut haben. Die hatten was vor, das konnte Kerstin sehen, die gingen irgendwo hin, wo wirklich was los ist, nicht zu so einer bescheuerten Modeschau. Und wie sie ausschauten, ganz anders als sie. Sie hatten bunte Klamotten an, und sie hatten keinen Stil, wie sie. „Sag Mama, warum darf ich eigentlich keinen Schritt allein machen?“, fragt Kerstin ihre Mutter im Auto. „Du weißt doch, dass dies zu gefährlich ist“, sagt ihre Mutter. „Aber schau doch hinaus, die Leute wirken nicht gefährlich, sondern beschäftigt, lebhaft. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie für mich gefährlich sein sollten.“ „Die schreiben sich das nicht auf die Stirn, natürlich nicht, aber willst du gekidnappt werden? Du weißt, wir sind reich und die, die sind arm.“ „Die schauen überhaupt nicht arm aus“, meint Kerstin zweifelnd. „Sie hungern auch nicht, hier zumindest nicht, und du weißt auch, dein Vater ist ein sehr karitativer Mensch, ja er ist wirklich bekannt für seine Großzügigkeit, aber trotzdem - bei den Unterschieden ist es unmöglich, dass du irgendwo allein hin gehst.“ Es stimmt, bis jetzt störte Kerstin die dauernde Bewachung nicht, im Gegenteil, sie war praktisch nie allein, außer in ihrem Zimmer, aber jetzt ist sie sechzehn, und wenn sie sich den Mann, der ihr Bodyguard ist, anschaut, schnürt es ihr fast die Kehle zu. Sie hat plötzlich das Gefühl, hinaus zu müssen aus diesem Auto, weg von ihrer Mutter, da auf die Straße, wo das Leben ist. Sie schaut gierig hinaus durch die getönten Scheiben der Limousine. Alle haben was zu tun, alle haben ein Ziel, außer die zwei, die da an der Ecke stehen und plaudern. Wie schön es sein muss, an einer Straßenecke zu stehen, und zu plaudern. Kerstin hat das noch nie gemacht, zumindest kann sie sich nicht daran erinnern. „Vielleicht sollten wir in Urlaub fahren?“, fragt die Mutter und schaut Kerstin von der Seite fragend an. „Nein, nicht schon wieder, die Nilkreuzfahrt, auf die ich mich so freute, war wie ein Gefangenkonvoi“, sagt Kerstin. „Also du bist vielleicht undankbar, die war wirklich beeindruckend! Wir wurden wunderbar verpflegt und umsorgt, und wir wurden auch informiert. Unser Reiseführer war exzellent!“ „Stimmt, aber wenn ich nur an diese Hotels auf Hawaii, in Kuwait oder sonst wo denke, vergeht mir die Lust aufs Reisen. Ja, einfach den Rucksack packen und irgendwo hin fahren, so wie es die anderen jungen Leute machen, das würde mir gefallen.“ „Welche anderen jungen Leute, die du kennst, packen ihren Rucksack und fahren irgendwo hin?“ „Stimmt, ich kenne niemanden, der das macht, aber viele machen das so.“ „Das glaub ich nicht“, sagt die Mutter, „Also ich habe das noch nie gehört, woher weißt du das?“ „Ich habe in den Prospekten geblättert, während du die Kreuzfahrt gebucht hast, kannst du dich nicht erinnern? Da stand ‚Packe deinen Rucksack und schau dir die Welt an’.“ „So ein Unsinn“, meint die Mutter. Kerstins Laune bessert sich auch nicht während der Modeschau. Die Kollektion gefällt ihr überhaupt nicht, und wenn sie an die jungen Leute auf der Straße denkt, waren die weit aus besser angezogen, als das, was ihnen ihr Designer da bietet. Mit Betty und Isabell spricht sie kaum, und als sie endlich ins Auto steigen und heimfahren, ist Kerstin so richtig froh. Sie war zwar draußen, aber da fühlt sie sich in ihrem Zimmer noch wohler, als so bewacht und abgeschirmt draußen zu sein. Kerstin hört nicht, was ihre Eltern in der Zwischenzeit im Kaminzimmer besprechen. „Ich finde, es ist höchste Zeit, es ihr zu sagen“, meint der Vater. Es ist unverantwortlich von uns. Außerdem erfährt sie es sowieso spätestens in zwei Jahren, das können wir nicht verhindern, du weißt es.“ „Sie wird gehen“, sagt die Mutter. „Sie ist unser einziges Kind.“ „Wir könnten mit ihr gehen. Hast du dir das schon überlegt, denn ehrlich gesagt, ich halte es auch nicht mehr lange aus.“ „Wie meinst du das, du hältst es nicht mehr lange aus? Wir haben uns damals dafür entschieden. Da waren wir einer Meinung, und jetzt sagst du mir, dass du es nicht mehr aushältst.“ „Damals konnte ich es mir nicht anders vorstellen. Der Schock war so groß, und alles aufgeben kam nicht in Frage. Aber heute nach zwanzig Jahren ist es anders. Ich will dabei sein, es ist gigantisch, was da alles passiert, das hätte ich mir damals nie träumen lassen, und wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich damals anders entschieden, das kannst du mir glauben.“ Irene reißt die Augen auf. „Du verrätst mich, uns, das hätte ich nie von dir geglaubt.“ „Irene, die Zeiten haben sich geändert. Wir werden immer weniger, das merkst doch auch du, es springen immer mehr ab. Wie, glaubst du, schaut es nach den nächsten zwanzig Jahren aus, und wir sind noch nicht so alt. Irene ich bitte, dich, überlege es dir!“ „Ich soll das alles aufgeben?“, fragt sie und macht mit der Hand eine weitläufige Bewegung. „Das ist doch alles nichts. Was gibst du denn auf, diese Räume, deine Möbel, das Familienporzellan, den Schmuck.“ Das Wort ‚Schmuck’ hätte Heinrich nicht sagen sollen, denn Irenes Miene verschließt sich sofort. „Der gehört Kerstin, den Familienschmuck wird meine Tochter tragen.“ Heinrich seufzt. Auf dem Weg zu den Wilsons sitzt Kerstin zwischen ihren Eltern und fühlt sich zum ersten Mal an diesem Tag wohl, ja sogar behaglich. „So ist es gut“, denkt sie, obwohl sie diese Wochenenden bei den Wilsons, sobald der Sommer beginnt, wirklich bald satt haben wird. Seit sie denken kann, das gleiche, einmal im Monat ab Mitte Mai Empfang bei den Wilsons in ihrem Landhaus. Keine Frage, es ist dort wunderschön. Sie kann schwimmen gehen, wenn das Wetter danach ist im Meer, ansonsten im großzügigen Innenpool. Sie darf reiten. Sie könnte Golf spielen, das hat sie jedoch noch nie gereizt. Aber da ist auch der Tennisplatz und nicht zu vergessen Brad ihr Mitspieler. Ja, sie freut sich auf Brad, und sie versteht gar nicht, weshalb sie schon so lange nichts von ihm gehört hat. „Er ist im Ausland“, wurde ihr gesagt, aber auch von dort hätte er sie doch zumindest einmal anrufen können. Sie hat versucht ihn zu erreichen, aber sein Handy war immer ausgeschaltet. Muss ja was ungeheuer wichtiges sein, was der zu tun hat, dachte sie, und als sie ihre Eltern danach fragte, wussten sie auch nichts darüber. Dieses Wochenende würde er da sein. Es ist der erste Empfang in diesem Jahr, da kann er nicht fehlen. George, ihr Chauffeur fährt sie, und das ist wenigsten ein vertrautes Gesicht unter den zahlreichen Bediensteten. „Ich habe Hunger“, sagt Kerstin. „Noch eine halbe Stunde, und du wirst vor dem riesigen Buffet stehen und nach Herzenslust essen können“, sagt der Vater. „Warum halten wir nicht bei einem Imbiss?“, fragt Kerstin. Sie weiß, dass sie provoziert, aber es ihr ernst, sie würde so gern einmal in ein ganz normales Restaurant gehen. „Kerstin!“, sagt der Vater nur. Es ist eine Ermahnung, aber er sagt es nicht böse. Er ist gut gelaunt, denn er freut sich auf die Freunde. Er sieht sie zwar oft in seinem Klub, aber so alle zusammen an einem Ort sind sie selten. „Nach dem dritten Wochenende hat er wieder genug davon“, denkt Irene, und auch ihr reicht es dann wieder. Sie braucht eine Pause von dieser Geselligkeit mit immer den gleichen Leuten. „Sie haben eine Band für die Jugend engagiert, sagte mir Amelie.“ „Das kann ich mir gut vorstellen“, sagt Kerstin. „Die spielen dann Rumba für uns, nein danke.“ „Nein, diesmal soll es eine wirklich neue gute Band sein.“ „Da bin ich aber gespannt“, und sie ist es wirklich. „Und was macht die Schule?“, will der Vater wissen. „Mein Notendurchschnitt ist 1,2. Ich denke, ich schaffe es nach Brixton.“ „Nach Brixton?“, der Vater runzelt die Stirn. „Geht das überhaupt?“ „Was meinst du mit ‚geht das überhaupt’?“ will Kerstin wissen. „Ich meine, es ist weit weg“, sagt der Vater schnell. „Ja, aber so ist das Leben“, sagt Kerstin herausfordernd. Die Eltern wechseln einen Blick, den Kerstin nicht mitkriegt. Im Wilson’schen Landsitz angekommen, verabschiedet sich George, der Chauffeur, nachdem er das Gepäck in die Gästezimmer gebracht hat. „Bis Montagmorgen, Sir“, sagt er kurz. „Warum bis Montag, er holt uns doch sonst immer am Sonntag Abend ab.“ „Er hat das Wochenende frei“, sagt Kerstins Vater. „Seit wann nimmt er sich das Wochenende frei?“, die Mutter klingt ungehalten, aber auch besorgt. „Es passt, mach dir keine Gedanken“, sagt der Vater schnell. Sie gehen in ihre Gästezimmer, um sich umzuziehen und frisch zu machen. Kerstin braucht dazu zehn Minuten, dann ist sie in ihrem neuen Abendkleid und bei den Gästen. Frau Wilson und ihr Mann begrüßen sie herzlich, und Kerstin meint, dass die Eltern gleich da sein werden. Ihr Blick schweift umher. „Wenn du Brad suchst, mein Kind, muss ich dich leider enttäuschen. Er ist nicht hier. Es ging sich nicht aus für ihn“, schließt sie schnell an, als sie Kerstins enttäuschtes Gesicht sieht. „Aber er lässt dich herzlich grüßen.“ „Wo ist er überhaupt?“, will Kerstin wissen. Aber Frau Wilson presst die Lippen aufeinander. Sie schaut wirklich verbissen aus, fällt Kerstin auf, aber sie lächelt gleich wieder: „Das dürfen wir nicht verraten, besser gesagt, ehrlich gesagt, wir wissen es selbst nicht. Er ist scheinbar in äußerst geheimer Mission unterwegs.“ „Was soll denn das heißen?“ Kerstin ist verwirrt. „Er ist neunzehn, da müsst ihr doch wissen wo er ist, macht ihr euch keine Sorgen?“, fragt Kerstin, und sie sieht wie Herr Wilson von einem Fuß auf den anderen steigt. „Ah, ich muss unsere Gäste begrüßen“, sagt er. „Wir wissen, es geht ihm gut“, flüstert Frau Wilson Kerstin ins Ohr. Bevor sie sich abwendet, sagt sie auch noch: „Mein Mann verkraftet es nur schwer.“ Kerstin versteht eigentlich gar nichts. „Was muss er denn verkraften?“, will sie wissen. „Bis später, mein Schätzchen.“ Frau Wilson lässt Kerstin einfach stehen, ohne ihr eine Antwort zu geben. Die Band, die für die jungen Leute spielt, ist wirklich gut, findet Kerstin. Gewöhnungsbedürftig, und den Text versteht sie so gut wie gar nicht, aber es ist etwas anderes, und es hat sie mitgerissen. Eigentlich wollte sie sich mit den Jungen und den Mädchen von der Band noch unterhalten, aber die waren so schnell weg. Kerstin versteht Herrn Wilson nicht, der seine Frau anfaucht, warum sie es zugelassen hat, dass diese Agitationsgruppe bei ihnen spielen durfte. „Ich wollte doch nur ein bisschen Abwechslung für die Jungen, und sie wurde mir so empfohlen.“ „Das kann ich mir vorstellen, dass die empfohlen wurden, und du fällst darauf rein, meine Frau!“ Herr Wilson wirkt wirklich wütend, und Frau Wilson wirkt traurig. „Seit Brad weg ist, ist mir eh alles egal“, sagt sie zu Irene. Kerstin hört es genau. Das Wochenende verläuft ansonsten wie immer, nur dass Kerstin am Sonntagabend noch zu den Sullivanmädchen rüber gehen kann, deren Landsitz an den der Wilson grenzt. Sie haben wirklich viel Spaß miteinander, aber ihnen tut es auch um Brad leid. Es war noch viel lustiger, wenn er dabei war. Am Montagmorgen wird Kerstin von George in ihre Schule gebracht. Es ist eine kleine Privatschule. „Die beste der Stadt“, wie ihre Mutter sagt. Aber manchmal hat Kerstin so ihre Bedenken, ob sie wirklich in der besten Schule ist. Die Schule kommt ihr ziemlich leicht vor. Gut, sie lernt Sprachen, Klavier, und so weiter, aber in den naturwissenschaftlichen Fächern scheint das Niveau sehr niedrig zu sein. Sie haben eine Bibliothek zuhause, und wenn auch die Bücher alle älter sind, lernt sie daraus weit mehr als das, was ihr in der Schule geboten wird. Sie fragte einmal die Eltern, warum sie keine Bücher kaufen, aber die Mutter meinte, die Bibliothek sei ohnehin schon voll, und die Neuerscheinungen interessieren sie nicht, sie lese lieber die Klassiker. Das tat und tut auch Kerstin oft, wenn sie zuhause ist. Sie haben natürlich auch Fernsehen und Internet im Haus, aber irgendwie sind die Sendungen äußerst beschränkt, und auch die Internetinformationen sind langweilig und scheinen sich nie zu verbessern. Kerstin weiß, dass an ihrer Schule ab dem nächsten Jahr Kurse abgehalten werden, für die schulfremde Dozenten und Dozentinnen eingeladen werden. Sie freut sich schon darauf, denn immer wieder hat sie das Gefühl, dass ihr Wissen vorenthalten wird. Auch wenn sie mit ihren Eltern zusammen ist, überhaupt in letzter Zeit, spürt sie, ihr wird etwas verheimlicht. In der Woche nach dem Wochenende bei den Wilsons ist Kerstin plötzlich fest entschlossen. Sie will jetzt hinaus. Zwar werden ihr ihre Bodyguards folgen, aber was kümmert sie das. Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass sie das Haus verlässt, aber dieses Mal will sie irgendwohin gehen, ohne Ziel. Sie will sich einfach die Gegend anschauen. Sie kennt natürlich die Umgebung seit ihrer Kindheit. Sie war mit dem Kindermädchen oft genug im Park und ist auch jetzt hin wieder zum Spaziergehen mit Freundinnen verabredet, aber das war und ist immer geplant. Sie fuhr zum Tennisplatz, ins Museum oder sonst wo hin, aber irgendwer weiß immer darüber Bescheid, wo sie ist und wo sie hingeht. Im Erdgeschoß beschließt sie spontan, den hinteren Eingang zu nehmen, den so genannten Dienstboteneingang, und wirklich - ihren Bewachern fällt es nicht auf. Sie ist plötzlich allein auf der Straße, die sehr ruhig wirkt, denn es ist eine Seitengasse. Sie geht ein Stück bis zur vierten Straße, wo sie an der Ecke einen Hotdogverkäufer sieht. Sie verlangt ein Hotdog und hält dem Verkäufer einen Geldschein hin. Der schüttelt den Kopf und will den Schein nicht, aber er lässt ihr den Hotdog. „Komischer Typ“, denkt Kerstin, aber das Würstel schmeckt köstlich. Sie geht weiter, schaut sich die Auslagen an und findet, dass diese normalen Geschäfte viel interessantere Sachen haben als diese Nobelboutiquen, wo sie mit ihrer Mutter immer einkaufen geht. Sie bleibt vor einer Buchhandlung stehen und wundert sich über die vielen Bücher. Sie kennt kein einziges davon. Sie wird mit ihrer Lehrerin reden, warum sie nicht auf dem Laufenden gehalten werden. In der Abteilung für Geschichte fallen ihr die vielen Bücher auf, die immer wieder das Wort „Krise“ im Titel führen. Welche Krise, und warum hörte ich davon nichts? Sie beschließt, ein sie ansprechendes Buch zu kaufen, erfährt aber bei der Kassa, dass dies mit ihrem Geld nicht möglich ist. „Die spinnen“, denkt Kerstin. Sie stellt fest, dass niemand ihr Geld will, sie aber immer öfter komisch angeschaut wird. Als sie nachhause kommt hört sie ihre Mutter gerade schreien, und anscheinend schreit sie den Vater an, der auch schon da ist. „Das haben sie absichtlich gemacht, sie haben sie absichtlich aus dem Haus gelassen. Das sag ich dir!“ Sie verstummt sofort, als sie Kerstin in der Tür erblickt. Irene laufen Tränen über die Wangen, und Kerstin hat keine Ahnung, weshalb sich ihre Mutter so aufregt. „Wir müssen mit ihr reden“, sagt ihr Vater, aber dann sagt er doch nichts, denn seine Frau schüttelt den Kopf. „Worüber müsst ihr mit mir reden?“, fragt Kerstin. „Nichts mein Schatz“, sagt die Mutter, und der Vater sagt: „Wir müssen das zuerst miteinander klären.“ „Was klären?“, will Kerstin wissen. „Bitte Liebling, geh in dein Zimmer“, sagt die Mutter, „Wir rufen dich dann. Wir müssen jetzt wirklich ungestört reden, dein Vater und ich.“ Kerstin hat keine andere Wahl, sie geht hinauf. Sie findet das Verhalten ihrer Eltern empörend. Die Welt da draußen hat sie verwirrt, und sie hätte sich die Hilfe ihrer Eltern erwartet, aber statt ihr zu helfen schicken sie sie in ihr Zimmer. Das Mädchen fragt kurz darauf, ob sie Tee möchte, Kerstin bejaht. Kerstin stellt sich zwischen Tür und Tisch, so muss das Mädchen an ihr vorbei, und Kerstin fragt sie: „Sind Sie neu?“ „Ja, Madame“, ist die knappe Antwort, und sie will an Kerstin vorbei. „Und werden Sie auch bald gehen, so wie die anderen?“ „Wahrscheinlich bleibe ich ein halbes Jahr“, sagt das Mädchen im schwarzen Kleid. „Warum nur ein halbes Jahr?“, will Kerstin wissen, und das kommt ihr schon ziemlich lang vor, sonst sind die Mädchen nach spätestens drei Monaten weg. „So lange mache ich den Sozialdienst.“ „Was heißt Sozialdienst?“, will Kerstin wissen, und sie ist sehr erstaunt über die Antwort. Aber das Mädchen merkt, dass es eigentlich zu viel gesagt hat, denn Kerstin hat anscheinend wirklich von nichts eine Ahnung, und es ist nicht ihre Aufgabe, sie aufzuklären, bis jetzt nicht, aber möglicherweise bekommt sie diese noch, weshalb hätte sie sonst ein halbes Jahr hier bleiben sollen? „Ich geh dann zurück in die Schule“, sagt das Mädchen, „Ich mache hier nur ein Praktikum. Ich will Geschichte studieren.“ „Das hat mir meine Mutter schon gesagt, dass ihr Praktikantinnen einer Dienstbotenschule seid und zur Haushälterin ausgebildet werden, aber Sie sagten Sozialdienst?“ „Ich habe die Wörter verwechselt, entschuldigen Sie bitte, es ist nicht meine Muttersprache.“ „Aber wenn Sie Geschichte studieren wollen, weshalb machen sie dann die Haushälterinnenausbildung?“ Kerstin will nicht locker lassen, obwohl das Mädchen schon sehr ungeduldig wirkt. „Ich muss jetzt gehen“, sagt sie knapp und lässt Kerstin einfach stehen. Kerstin empfindet das Verhalten der Angestellten als äußerst unhöflich. „Ich werde mit Mama darüber reden“, sagt sie sich, „ich muss mir das nicht bieten lassen.“ Sie hätte sich wirklich gern mit der Angestellten unterhalten, aber das will sie sich selbst nicht eingestehen. Unten im Salon spricht Heinrich eindringlich mit seiner Frau. Es ist nicht die erste Unterhaltung dieser Art. Überhaupt, in letzter Zeit beschäftigt sie fast nichts anderes. „Wir müssen es ihr sagen. Soll sie es von den anderen erfahren? Du weißt, in einem Jahr beginnen ihre Kurse, dann erfährt sie die Wahrheit.“ „Die Wahrheit, das ist hier die Wahrheit, meine Wahrheit.“ „Ja, ich weiß“, meint Heinrich matt. „Aber ehrlich, als ich dich heiratete, hast du nichts von der Welt gewusst, und jetzt weißt du noch weniger. Du bist gut behütet aufgewachsen, du hattest keine Ahnung, wie es den Menschen geht.“ „Ich hatte eine Ahnung, es gab Fernsehen, ja und genau deshalb habe ich mich gefürchtet, und ich tue es noch immer.“ „Ich weiß“, sagt Heinrich. „Aber sie tun uns nichts, das hast du doch in den letzten zwanzig Jahren erlebt.“ „Sie nehmen uns die Kinder, ist das nichts!“ Jetzt schreit Irene wieder. „Die Kinder entscheiden sich. Und was sollen sie denn machen? Sie entscheiden sich für das Leben.“ „Ich lebe auch.“ „Stimmt ja gar nicht. Willst du mit den Wilsons alt werden? Wir haben schon so viele Freunde verloren. Sie sind draußen, und wir könnten sie wieder finden.“ „Ja, sie sind in ihren Reihenhäusern, ohne Dienstboten, ohne Geld, ohne Werte, ohne Traditionen.“ „Die sind wirklich nett, diese Häuser, und sie haben Geld, es reicht. Du hat ja keine Ahnung, was sich da draußen entwickelt hat, seit - du weißt ja. Es hungert niemand mehr, alle erhalten eine Ausbildung, sie besiegen Krankheiten, die technische Entwicklung ist so enorm. Besuche doch die Kurse, die sie dir anbieten, sie tun dir nicht weh, es passiert nichts dabei, keine Gehirnwäsche. Ich würde den Klub, dieses Leben ohne diese Kurse nicht aushalten. Sie halten uns dort auf dem Laufenden, und sie sind bereit, wenn wir bereit sind, uns zu nehmen. Sie sagen, sie brauchen uns, unser Wissen, unser Können, unsere Erfahrung. Ich sage dir, ich gehe mit Kerstin, wenn sie geht, ich liebe dich, aber meine Tochter liebe ich mehr.“ „Und wenn sie bleibt?“ Irenes Frage klingt nicht zuversichtlich. „Sie bleibt nicht, das weißt du genau. Sie gehen einer nach dem anderen.“ Irene sitzt zusammengekauert auf dem Sofa. „Ich habe solche Angst“, sagt sie, „Vor ihnen hab ich Angst.“ „Sie tun uns doch nichts, sie haben uns alles gelassen.“ „Nein!“, jetzt schreit Irene wieder, „Sie haben uns alles genommen, und sie bewachen uns rund um die Uhr!“ „Sie haben uns nur die Macht über sie genommen, sonst nichts.“ „Wir waren gut zu ihnen“, Irene schluchzt. „Meine Eltern waren gut, und sie sind daran gestorben.“ „Sie wurden nicht umgebracht, sie haben es nicht verkraftet, daran sind sie gestorben.“ „Ich verkrafte es auch nicht.“ „Doch, du hat es schon verkraftet, du bist vierzig, du bist jung, wir müssen da raus.“ „Ich hab den Kaviar nicht gekriegt, den ich letzte Weihnachten bestellt habe.“ Irene wimmert, und Heinrich weiß, es geht nicht um den Kaviar, denn sie hatten es ihr erklärt, in einem ausführlichen Brief. Sie hatten ihr erklärt, dass die Art geschützt werden müsse, und Irene hat es verstanden. Es ging um etwas ganz anders. Es ging darum, geboren und aufgewachsen zu sein in einer Schicht, die sich als selbstverständlich besser vorkam als die übrige Menschheit, und im gewissen Sinne war sie es auch, zumindest was Irene und ihre Eltern betraf. Sie waren wirklich nobel, auch zu ihren Angestellten und all den Menschen, die für sie arbeiteten, aber das war nicht der Punkt gewesen. Auch das Geld ihrer Familie arbeitete, scheinbar von allein, und dieses Geld arbeitete gegen die Interessen der Menschheit. Es hatte seine eigene Dynamik. Das Geld ihrer Eltern tat nichts anderes als all das Geld dieser Welt. „Gut, reden wir mit Kerstin, bevor es zu spät ist. Ich traue dem neuen Dienstmädchen nicht. Immer hält sie sich oben bei Kerstin auf. Sie will ihr Vertrauen gewinnen, da bin ich mir sicher. Und überhaupt, sie will sechs Monate bleiben, das hatten wir noch nie.“ „Ich denke auch, wir müssen es ihr sagen, es bleibt uns dann noch Zeit, dir, Kerstin und mir. Wir haben noch zwei Jahre. Weiß du, manchmal frage ich mich, ob es nicht ein Unrecht an Kerstin war, sie so aufwachsen zu lassen“, aber das hätte Heinrich besser nicht gesagt, denn seine Frau starrt ihn nur entsetzt an. ‚Liebe ich diese Frau noch?’, fragt sich Heinrich wie schon so oft. ‚Diese Frau, die seit zwanzig Jahren in ihrer Welt lebt und nichts weiter wissen will? Aber bin ich anders?’, fragt er sich. ‚Ich hatte Irene immer als Ausrede, wegen ihr, wegen Kerstin, aber was hätte ich getan?’, diese Frage und viele andere gehen Heinrich wie schon so oft durch den Kopf. Er war so stolz gewesen, mit dieser Frau verlobt zu sein. Gut, er kam auch aus einer angesehenen Familie, aber seine Familie war sozusagen neureich. Irenes Familie war schon immer reich gewesen. Es gab keine armen Vorfahren, und sie kannte ihre Vorfahren genau. Er war stolz und fühlte sich mächtig als junger Mann. Er empfand seine Mächtigkeit jedoch immer als etwas Positives, denn er wollte mit dieser Macht und seinem Wissen Gutes bewirken, das wusste er damals gar nicht so genau, aber er weigerte sich zum Beispiel in Waffengeschäfte zu investieren, nicht wie der alte Wilson, der überhaupt keine Skrupel bezüglich der Art, wie sich sein Geld vermehrte, hatte. Kerstin wird zum Diner gerufen. Die Mahlzeit verläuft wie üblich. Frank, der Butler trägt diskret auf, zieht sich zurück, sobald er „Danke, Frank“ hört und räumt den Tisch ab, sobald die Familie im Salon ist. So ist es auch heute. Der Vater stellt komische Fragen, findet Kerstin. „Kannst du dir ein Leben ohne Personal vorstellen?“, fragt er zum Beispiel Kerstin. „Nein“, sagt diese spontan. „Wer sollte kochen, die Wäsche, das Haus, nein, ganz unmöglich“, meint Kerstin überzeugt. Im Salon hört der Vater nicht auf. „Du weißt doch Kerstin, dass viele Menschen so leben.“ „Wie leben?“ „Na, ohne Personal.“ „Aber wir doch nicht“, sagt Kerstin, und sie schaut ihre Mutter dabei an, die dazu nur nickt. „Hast du Probleme mit deinen Geschäften Papa?“, will Kerstin wissen. „Nein, überhaupt nicht“, lacht Heinrich. „Es ist so, wir müssen dir etwas erzählen.“ Und Heinrich schaut sein Frau an, ob die bereit dafür ist. Kerstin ist gespannt. Sie setzt sich neben die Mutter, und Heinrich beginnt zu erzählen. Schon hunderte Male stellte er sich diese Situation vor. Er stellte sich vor, wie er es Kerstin erklären würde. Er freute sich sogar darauf, endlich mit dieser Heimlichtuerei aufhören zu können, doch jetzt ist es ganz anders. Es fällt ihm nicht ein, was er sich vorgenommen hatte, zu sagen. Er beginnt einfach zu reden, und hat selbst keine Ahnung, wohin es führen wird. „Es ist jetzt zwanzig, eigentlich, fast dreißig Jahre her, wenn man die Anfänge bedenkt. Wir waren noch Kinder. Also deine Mutter war noch ein Kind, du weißt ja, sie ist eine Edding.“ „Ja natürlich weiß ich das“, wirft Kerstin ungeduldig ein. Für sie ist es so, als wollte ihr Vater erklären, dass die Erde rund ist, und Kerstin fürchtet schon eine sehr langweilige Unterhaltung. „Ich war achtzehn und wollte gerade ins Bankgeschäft einsteigen“, fährt Heinrich fort, ohne sich von Kerstins Ungeduld, für die er Verständnis hat, aus der Fassung bringen zu lassen. „Meine Familie war steinreich.“ „Ist sie doch noch immer“, sagt Kerstin. „Ja, irgendwie schon. Den Eddings gehörte viel Land, und uns, den Silverstones, gehörte viel Geld, sehr viel Geld. Es ist so gewachsen, das Geld. Wir taten gar nicht viel dafür. Ja, wir machten unsre Geschäfte, aber das war natürlich, für alle Kapitalisten war das natürlich.“ „War? Was meinst du damit?“ Kerstin kam das Gerede ihres Vaters jetzt schon sehr eigenartig vor. Und dass sich ihre Mutter nicht einmischte, war noch eigenartiger. „Ja, wir machen keine Geschäfte mehr.“ Kerstin ist echt verblüfft. „Was machst du denn?“ „Ich versuche gerade, es zu erklären. Ja vor dreißig Jahren gab es die erste heftige Krise – Finanzkrise. Wir dachten damals, das kriegen wir in den Griff, aber einige Jahre später kam die zweite, und dann die dritte, und es ging so weiter. Wir kriegten gar nichts in den Griff. Es war nicht in den Griff zu kriegen. Wir wurden aber immer reicher, denn das Geld floss uns durch diese Krisen einfach zu. Das war so die Eigenschaft dieses Geldes, dass es dorthin floss, wo schon viel, sehr viel Geld war. Das Problem dabei war nur, dass dort, wo wenig Geld war, auch immer weniger Geld blieb, wenn du verstehst, was ich meine?“ Kerstin wollte gerade sagen: „Nein, ich verstehe das nicht“, aber ihr Vater ließ sie nicht zu Wort kommen. Das war sehr ungewöhnlich. „Natürlich halfen wir mit unserem Geld aus, so gut es eben ging, aber die Welt verarmte, da nützten unsere Almosen nichts mehr, es war nichts zu machen, und wenn wir nicht mithielten mit den Finanzhaien, würden wir auch verarmen. Es war so, dass jeder, der bei dem Spiel nicht mitmischte, an den Rand des Strudels geriet und mit hinuntergezogen wurde. Den Eddings passierte das, obwohl sie eine alte, reiche Familie waren, aber der Boden warf kein Geld ab, und ihre Bank war zu klein für diese großen Geschäfte, nur sehr viel Geld machte sich wieder zu Geld. Wir sahen dem zu, und keiner wusste eine Lösung. Die Folgen waren schrecklich für die Leute, nicht so sehr bei uns, denn der Staat druckte einfach mehr Geld. Aber das beschleunigte nur den Strudel, vor allem in den ärmeren Ländern wurde die Armut so groß, weil die hatten zwar ihr eigenes Geld, aber sie mussten Waren, die teuer wurden, sehr teuer kaufen. Und dann geschah es - es war für uns praktisch über Nacht. Wir hatten das weltweite Netz vollkommen unterschätzt. Sie schalteten uns einfach aus. Vor zwanzig Jahren. Natürlich ging dem eine ungeheure Vorbereitung voraus, aber von der merkten wir nichts. Sie hatten unzählige Verbündete, denn jeder schlug sich auf ihre Seite, jeder, der einsah, dass es so nicht weiter gehen konnte. Sie beobachteten genau, wo sich das Kapital konzentrierte, sie wussten es und beobachteten es, und dann schalteten sie uns ab. Es war einfach, nachdem sie alle Vorbereitungen getroffen hatten. Eine der ersten Maßnahmen danach war die Entwaffnung der Militärs, Vernichtung der Waffen weltweit. Sie kappten unsere Kommunikationsmöglichkeiten, und danach schafften sie sofort unser Geld ab. Das war genial und einfach. Das alte Geld existierte einfach nicht mehr für sie. „Deshalb kriege ich nichts mit den Scheinen, nicht einmal einen Hotdog.“, warf Kerstin ein. Und ich sage dir, sie hatten Recht, auch wenn das deine Mutter noch nicht so sieht.“ Heinrich schaut seine Frau an. Sie sagt gar nichts, und Kerstin hat den Mund leicht geöffnet. „Ich versteh dich nicht, Papa. Sag, dass das ein Witz ist, bitte!“ Kerstin stammelt. „Wir haben doch alles, ich versteh dich nicht.“ „Ja, sie ließen uns die Dinge, die wir gewöhnt waren, unsren Lebensstil sozusagen, und sie geben uns alles, was wir wollen, eigentlich ist es so, aber wir haben nichts mehr zu entscheiden.“ „Du arbeitet doch?“ „Tu ich nicht, ich fahre seit zwanzig Jahren in den Klub.“ „Und warum, warum weiß ich nichts davon?“ Kerstin schreit. „Wir mussten uns damals entscheiden“, sagt jetzt Irene. „Das hier, oder ein Reihenhaus. Wir entschieden uns für das hier, ich konnte mich gar nicht anders entscheiden. Es war schrecklich, obwohl sich rein äußerlich für mich nichts änderte, trotzdem - es war wie ein Weltuntergang.“ „Wir waren verlobt damals, und wir trafen die Entscheidung zusammen.“ „Wir hatten gar keine Wahl, weil wir es uns nicht anders vorstellen konnten.“ „Ich kann es mir auch nicht anders vorstellen“, Kerstin klingt verzweifelt. „Wie viele sind wir noch?“ „Ich weiß es nicht, aber im Klub reden sie von fünfzigtausend, weltweit. Das ist nichts im Vergleich zur Weltbevölkerung. Unsere Erhaltung kostet sie praktisch nichts, egal welchen Luxus wir wünschen. Aber was ich wirklich fantastisch finde“, und Heinrich gerät fast ins Schwärmen, während ihn Irene misstrauisch anschaut, „Nachdem die Anfangsschwierigkeiten gelöst waren, und die waren enorm, entwickelte die Menschheit eine bisher nie da gewesene Kraft und Kreativität. Es ist unglaublich, was sich in den letzten zehn Jahren auf der Welt getan hat, und alle Bereiche sind in der Zwischenzeit mit demokratischen Gremien besetzt. Die Welt ist demokratisch vernetzt, und wirklich jeder hat die Möglichkeit der Mitbestimmung, das ist unglaublich.“ „Jetzt hör sofort auf zu schwärmen. Du klingst ja widerlich“, empört sich Irene. „Wovon leben denn die Leute, würde ich gern wissen?“, sagt sie schnippisch. „Das ist ja das Einfache und Geniale: Jeder lebt auf Kredit, und den kann jeder von jedem kontrollieren. Es gibt natürlich Kreditrahmen, aber es gibt genügend Möglichkeiten, den einzuhalten.“ „Und womit bitte?“, will jetzt Kerstin wissen. „Mit Ausbildung, Arbeit, Sozialdienste, Kreativität, da gibt es wirklich genügend Möglichkeiten einen Beitrag zur Gesellschaft zu liefern. Und die Menschen wollen das auch, das war schon immer so“ „Du hast ab dem nächsten Jahr deine Kurse, du wirst viel erfahren, viel lernen, und wenn du achtzehn bist, musst du deine Entscheidung treffen.“ „So wie Brad?“, fragt jetzt Kerstin. „So wie Brad.“ „Und ihr, was macht ihr?“ „Wir wollen dich nicht verlieren, wir treffen die Entscheidung, die du treffen wirs t.“
Edgar Stein Edgar Steins Leiche sah man nicht an, dass er, Edgar Stein, vollkommen glücklich gestorben war. Doch glücklich ist nur ein Hilfsausdruck für den Zustand vor seinem Tod, den wir so wahrscheinlich nie kennen lernen werden. Glückselig wäre das bessere Wort, was es aber auch nicht trifft. Es gibt kein Wort für das Gefühl Edgar Steins kurz vor seinem Tod, und wer weiß, vielleicht auch nachher befand, beziehungsweise befindet. Ihm ist, und das im wahrsten Sinn des Wortes, kurz vor seinem Tod ein Licht aufgegangen. Die Leiche war schon am Verwesen, als man sie in dem Container fand, den Edgar Stein zu seinen Lebzeiten bewohnte. „Bewohnte“ ist auch nicht wörtlich zu nehmen. Er schlief darin, aber von wohnen war keine Rede, obwohl seine Schlafstätte allen seinen Ansprüchen entsprach. Die Matratze war von besonders guter Qualität, und wir haben keine Ahnung, wo er sie aufgetrieben haben könnte. Er hatte zwei wunderbare weiche Kissen und einen Daunenschlafsack, der einem Bergsteiger im Himalaja recht gewesen wäre. Wie gesagt, der Container war Edgar Steins Schlafplatz. Außer den aufgezählten Dingen und dem Rucksack befand sich nichts darin. Sein Rucksack stand an seinem Platz, wenn er anwesend war, ansonsten trug er ihn bei sich. In dem Rucksack befand sich genau das gleiche Gewand, welches Edgar Stein auch trug, als man seine Leiche fand. Unterhose, T-shirt, Pullover, Socken, Hose alles in schwarz, frisch gewaschen und genau gefaltet. Haube, Schal, Handschuhe ebenfalls schwarz, hatte sein Körper an. Der schwarze Wintermantel lag neben der Matratze und die schwarzen dicken Wollsocken steckten in den schwarzen Schnürschuhen, die er im Sommer und im Winter trug, denn Edgar Stein ging alles zu Fuß. War schon die Leiche außergewöhnlich, so hätte man sich über alle Maßen über Edgar Stein selbst gewundert, wenn jemand über ihn bescheid gewusst hätte, aber das tat eigentlich niemand. Es gab einige Leute, die ihn kannten, und wir können aus diesen Kenntnissen seinen Tagesablauf wie ein Puzzle zusammen stellen, und trotzdem würde niemand wissen, dass mit Edgar Stein wahrscheinlich einer der weisesten Menschen der Menschheit gestorben ist, denn das wusste selbst Edgar Stein nicht. Beginnen wir chronologisch. Edgar Stein wuchs in einem Dorf auf. Über seine Familie und seine frühe Kindheit wissen wir wenig. Wahrscheinlich hatte er Geschwister, aber das ist nicht belegt. Weiters ist anzunehmen, dass er in einem Haushalt ohne Bücher oder sonstigen Lesestoff aufwuchs. Die Obrigkeitsgläubigkeit Edgars und die seiner Eltern lassen auf einen autoritären Erziehungsstil in der Familie schließen. Er wurde normalaltrig in die dörfliche Volksschule eingeschult. Zu seinem frühen Pech und seinem späten Glück wurde im selben Jahr die neue Sonderschule in der nächsten Kleinstadt eröffnet, auf die der Bürgermeister und der Gemeinderat sehr stolz waren, demonstrierte sie doch ihr soziales Engagement, eine Schule für die Benachteiligten ihrer Gesellschaft, zu ihrer Unterstützung und Förderung. Die Benachteiligten selbst sahen das anders, denn wurde man in diese Schule eingewiesen, war man für die anderen entweder behindert, blöd oder beides zugleich. Edgar Stein war in der vierten Klasse Volksschule, als man ihn testete und seine Lernbehinderung festgestellt wurde. Gleichzeitig brauchte die neue Sonderschule dringend Schüler, und aus diesem Grund wurde auch eigens ein Fahrtendienst in Edgar Steins Heimatdorf angeboten. Die Umstände für die spezielle Förderung Edgar Steins waren also günstig und dementsprechend war das Testergebnis. Natürlich wurde Edgar Stein nicht mutwillig für die spezielle Förderung ausgesucht. Man hatte festgestellt, dass er nicht lesen konnte. Dass dieser Umstand erst in der vierten Klasse auffiel, wurde nicht hinterfragt, und schon gar nicht wurde erkannt, dass diesem Nichtauffallen eine besondere Begabung zu Grunde liegen musste, denn Edgar Stein hatte sich von Anfang an die Wörter seines Lesebuches gemerkt und kam damit in der ersten Klasse als besonders guter Leser zurecht. Auch in der zweiten und dritten Klasse war das Problem noch nicht auffällig, denn Edgar Stein hatte sich in der Zwischenzeit eine Unmenge von Wörtern eingeprägt, was ihm in keiner Weise schwer fiel, denn er hatte wie gesagt ein so gutes visuelles Gedächtnis, dass er es bis zur vierten Klasse nicht nötig hatte, die Buchstaben zusammenzulauten. Es fiel dem Lehrer erst dann auf, dass Edgar Stein ihm vom Wortbild her unbekannte Wörter nicht lesen konnte. Diesem Lernprozess wäre zu diesem Zeitpunkt mit ein bisschen gutem Willen von Seiten des Lehrers nachzuhelfen gewesen, aber dieser Wille war nicht vorhanden, weil das Entsetzen des Lehrers stärker war. Dieses Entsetzen wälzte der Lehrer vollkommen auf Edgar Stein ab, um sich ja nicht selbst in Frage stellen zu müssen. Es ging so weit, dass die Bemühungen Edgar Steins sogar barsch unterbrochen wurden, denn diese Stotterei war in einer vierten Klasse nicht mehr tragbar. Keine Frage - Edgar Stein hätte das Lesen erlernt, denn was anfangs aussichtslos schien, weil das Gehirn noch nicht die nötigen Nervenverbindungen hatte, da es diese bis dahin auch nicht brauchte, hätte sich durch ein bisschen Übung schnell verbessert, aber auf dieses Üben ließ sich niemand mehr ein. Edgar Stein wäre sogar ein außergewöhnlich schneller und guter Leser geworden. Auch Edgar Stein nahm sein „Nichtlesenkönnen“ zur Kenntnis, nachdem er offiziell von einem Psychologen getestet worden war und viele Papiere auch von seinen Eltern unterschrieben worden waren. Außer dem Psychologen schrieben auch der Lehrer, die Direktorinnen der Volks- und der Sonderschule und die zukünftige Sonderschullehrerin ihre Gutachten, worin von weiteren Auffälligkeiten gesprochen wurde, die vorher noch niemandem, auch Edgar Stein selbst nicht, aufgefallen waren. Eine Kommission entschied, und als dann sogar ein amtlicher Bescheid eingeschrieben nachhause geschickt wurde, in dem wortwörtlich stand, Edgar Stein habe eine Behinderung, glaubte er es auch selbst. Der Minibus der Sonderschule holte ihn direkt vor seiner Haustür ab und brachte ihn auch wieder nachhause. Edgar Stein wurde zum Sonderschüler und zum Dorftrottel. Er verweigerte von da an das Lesen. Nach der Schulzeit verliert sich Edgars Steins Spur. Es ist sicher, dass er das Dorf verließ und in die Hauptstadt ging. Edgar Stein trat erst wieder als regelmäßiger Sozialhilfeempfänger ohne festen Wohnsitz in Erscheinung. Es ist anzunehmen, dass er verschiedene Arbeitsplätze hatte, diese jedoch nach kurzer Zeit kündigte oder gekündigt wurde. Letzteres ist sicher auf die fehlende Kenntnis des Zusammenlautens unbekannter Wörter zurück zu führen. Edgar Stein vermied, so gut er nur konnte, Berührungspunkte mit der Schrift. Um Buchhandlungen machte er einen großen Bogen und Zeitungen verwendete er nur, um sich damit zuzudecken. Edgar Stein lebte als Sandler auf der Straße, holte sich am ersten etwas Geld vom Amt, versoff es und versuchte den Rest des Monats irgendwie durchzukommen. Sicher erlebte er Abgründe jeglicher Art, und es war ein Zufall, dass er im Leben seinen Sinn fand. Dieser Zufall spielte sich so ab: Es war kalt, sehr kalt, und Edgar Stein war auf der Suche nach einem warmen Plätzchen. Das war nichts Besonderes für ihn, denn das war im Winter täglich so, und nicht nur im diesem Jahr, sondern auch in den Jahren davor. Doch an diesem Tag war es anders, da Edgar Stein ein anderes Plätzchen suchte, ohne zu wissen, was dieses Anderssein sein sollte. Er wollte nicht zu den ihm bekannten Orten, wo er seine Kumpane treffen würde, nein, dorthin wollte er auf gar keinen Fall. Edgar Stein folgte dieser Empfindung, und er dachte nicht darüber nach. Er ließ sich treiben mit dem Strom der U-Bahnfahrer und unbewusst trieb er lieber mit den jungen Menschen. Sie wirkten frischer, lebenslustiger, nicht so mürrisch wie der Mittelbau, der zur Arbeit fuhr. Also, er ging einfach unter diesen jungen Leuten mit, die ausstiegen, zur Rolltreppe strömten, hinauf fuhren und sich mit denen, die aus den Straßenbahnen kamen, vereinten, und die sich dann wieder teilten. Ein Teil ging die breite Rampe hinauf, ein Teil strömte weiter zum neuen Institutsgebäude, und einen Teil verschluckte der kleine Nebeneingang der Hauptuniversität. Edgar Stein ging die Rampe hinauf, nur in Erwartung der Wärme, er fror bis auf die Knochen und konnte sich keine Gedanken mehr über sein Ziel machen. Er betrat die Aula durch die große Doppeltür, und er wäre fast erstaunt stehen geblieben, hätte er nicht von hinten einen Stoß bekommen, dem ein betroffenes „Entschuldigung“ folgte. So ging er einfach weiter, und da die Mehrheit der jungen Leute zufällig zur linken Stiege abbog, wandte er sich auch nach links. Edgar Stein landete, ohne es gewollt zu haben und ohne dass es ihm so recht bewusst gewesen wäre, im Hörsaal sieben, der behaglich warm war. Natürlich hatte er schon früher gehört, dass es eine Universitär gab, wo man sich auch aufhalten konnte, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, sich dort in einen Hörsaal zu setzen, aber es ist ihm einfach passiert. Edgar Stein blieb den ganzen Tag dort sitzen, obwohl er Hunger hatte, aber sein Hunger nach Wissen war größer. Das hatte er bisher nicht gewusst, und es erstaunte ihn selbst über alle Maßen. Er war einer der letzten gewesen, der in den Hörsaal kam, bevor die Vorlesung begann, und Edgar Stein erschrak, als es plötzlich so leise wurde, nachdem überall rege Unterhaltungen geführt worden waren, und der Lautstärkepegel ziemlich hoch gewesen war. Er saß in der vorletzten Reihe ganz außen, denn die Reihe war bis auf diesen Platz bereits voll besetzt gewesen, als er in den Hörsaal kam. In der zweiten Vorlesung musste er einige Male aufstehen um Platz zu machen, darauf hin setzte er sich vor der dritten Vorlesung in die letzte Reihe, ganz rechts. So konnte er einfach sitzen bleiben und musste nicht dauernd Platz machen. Ein paar Tage später fand er seinen Platz, wo er niemanden störte, und den er die nächsten Jahre beibehalten sollte. Viele Studenten hatten es sich mit der Zeit angewöhnt, zuerst einen Blick auf Edgar Steins Platz zu machen, sobald sie den Hörsaal betraten. Es geschah meist unbewusst, aber seine Anwesenheit hatte etwas Verlässliches für sie. Es fiel nicht auf, dass er nie mitschrieb. Er hörte, und mit der Zeit kannte er die Vorlesungen seines Hörsaals, und er wusste, wann er genügend Zeit hatte, sein mitgebrachtes Essen zu verzehren oder zwischendurch aufzustehen, um ein paar effektive Gymnastikübungen zu machen, damit er nicht steif wurde vom stundenlangen Sitzen. Die Studenten und Professoren kamen und gingen, und niemanden fiel es so richtig auf, dass Edgar Stein den ganzen Tag im Hörsaal Nr. sieben verbrachte. Mit der Zeit kannte er die Gesichter vieler Studenten, und einige kannte er sogar persönlich, denn wie gesagt, sie wussten, dass er immer in ihren Vorlesungen war, und dass er ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte. Sie fragten ihn, wenn sie eine Vorlesung versäumt hatten oder sonst irgendeine Information wollten. Edgar Stein wurde zum Experten für den Hörsaal sieben, und er genoss die Unterhaltungen mit den jungen Menschen. Er hatte in dieser Zeit mit dem Trinken aufgehört, und vielleicht war auch das der Grund, weshalb es ihn an diesem bestimmten Tag, der sein Leben vollkommen änderte, in den Hörsaal sieben führte. Es war wahrscheinlich auch in der Anfangszeit seiner Studienjahre, dass er den Container mietete, sich aus praktischer Überlegung die schwarzen Sachen zulegte und seinen regelmäßigen Tagesablauf begann. Edgar Stein führte wie gesagt ein regelmäßiges Leben. Die Leute des Sicherheitsdienstes des Containerlagers wussten, dass Edgar Stein seinen Container zum Schlafen benützte, aber es ging ihnen wie den anderen Leuten, die Edgar Stein kannten, er war die Ausnahme von der Regel. Sie waren es, die den Container öffneten, weil es stank. Sie hatten ihn lange Zeit nicht gesehen, das war aber nicht außergewöhnlich gewesen. Vielleicht war es die Zufriedenheit, die er auszustrahlen begann, nachdem er den Sinn seines Lebens gefunden hatte, dass ihm Menschen halfen und unterstützten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Die Vorlesungen des Hörsaals sieben begannen sich zu wiederholen und zwar so, dass Edgar Stein wirklich fast nichts Neues mehr hörte. Deshalb wechselte er den Hörsaal. Dort blieb er wahrscheinlich auch einige Jahre, um dann wieder den Hörsaal zu wechseln. Edgar Stein hörte in den letzten Jahrzehnten seines Lebens wirklich alle Vorlesungen der Universität, und das wahrscheinlich mehrmals. Auf dem Fußmarsch zu seinem Schlafplatz machte er sich Gedanken über das Gehörte. Es waren seine eigenen Gedanken, die sich mit seinem angesammelten Wissen, auch das über die Menschen, die er täglich beobachtete, verknüpften. Wenn Edgar Stein in seinem Container ohne Wecker, aber immer um die gleiche Zeit erwachte, stand er auf, richtet den Schlafsack so, dass die Innenseite außen lag um zu lüften, nahm den Rucksack, zog Socken - nie hätte er mit Socken geschlafen - und Schuhe an und verließ seinen Container. Sein Container stand so, dass er im Sommer sogar die Tür offen lassen konnte, um die kühlere Luft herein zu lassen. Wie gesagt die Wachmannschaft kannte ihn, auch wenn sie ihm nicht so oft direkt begegneten, und wahrscheinlich war der eine oder andere von ihnen sogar froh, in der Nacht nicht ganz allein auf dem Gelände zu sein. Wann Edgar Stein ausschließlich und bei jeden Wetter zu Fuß zu gehen begann, ist auch nicht genau bekannt, aber es wird auch mit den Vorlesungen zu tun gehabt haben, denn er brauchte sicher einen körperlichen Ausgleich zu der Sitzerei. Edgar Stein ging in der Früh zuerst zu dem Hotel, wo er die Toilette und die Dusche benützen durfte, und ihm sogar täglich ein frisches Handtuch zur Verfügung gestellt wurde. Es war eine Vereinbarung zwischen ihm und dem Nachtportier dort, und selbst als der alte Portier in Pension ging und ein junger Mann seinen Platz einnahm, wurde diese Vereinbarung beibehalten. Er war im Leben aller Menschen, die mit ihm zu tun hatten, ein stabiler verlässlicher Faktor, der ihnen erst seit seinem Verschwinden so richtig bewusst wurde. Nach der Morgentoilette ging Edgar Stein in die Bäckerei, wo er einen Liter Milch kaufte und das Gebäck des Vortages gratis bekam. Mit dem Frühstück setzte er sich in die Münzwäscherei, wo er das Gewand des Vortages, das gleichzeitig sein Nachtgewand war, wusch, trocknete und sorgfältig im Rucksack verstaute. Die Containermiete, die Münzwäscherei und der Liter Milch waren seine Fixkosten. Einmal im Monat holte er sich seine Sozialhilfe vom Magistrat, und das war auch der Tag, an dem er seinen Schlafsack und seine Polsterüberzüge wusch und trocknete. Von der Münzwäscherei ging er zum Markt, wo er jeden Morgen verschiedenes Obst, aber immer waren Bananen dabei, geschenkt bekam, das zusammen mit dem Gebäck sein Essen für den Tag war. Hin und wieder kaufte er Nüsse, wenn er Verlangen danach verspürte. Außer dem Liter Milch in der Früh trank Edgar Stein nur mehr Wasser, aber das regelmäßig und viel, aus seiner Plastikflasche, die sich neben seiner kleinen Toilettetasche im Rucksack befand. Edgar Stein war neunundachtzig Jahre alt, als man seine Leiche fand. Er muss demnach ungefähr fünfzig Jahre zur Universität gegangen sein. Er lernte viele Studentengenerationen kennen, und er half ihnen mit seiner Erfahrung. Er befreundete sich mit niemandem, aber ihm wurden sicher viele positive Gefühle entgegengebracht. Wahrscheinlich fiel er im Laufe der Zeit auf, aber keiner fühlte sich durch ihn gestört, im Gegenteil, Edgar Stein hinterließ eine Lücke bei den Menschen, die ihn kannten, aber die schloss sich allmählich durch andere Alltäglichkeiten.
Musterung 2020 „Und was ist, wenn ich nicht hin gehe?“ „Das würde ziemlich teuer werden.“ Marias Geduld hängt nur mehr an einem dünnen Faden, aber ihr Sohn Leon scheint es nicht zu merken. „Ich halte das für eine totale Zumutung“, sagt er verärgert. Maria beschließt sich zusammenzureißen. „Du hast ja Recht, aber es gibt keine andere Möglichkeit, du musst dort hin, oder du wanderst aus, aber ich denke, selbst das nützt nichts. Die kriegen dich.“ „ Das sich das alle so einfach gefallen lassen. Man gehört doch nicht dem Staat?“ Jetzt mischt sich Josef ein. „Man gehört nicht dem Staat, aber man gehört zum Staat, zur Gesellschaft, und da hat man seine Pflicht zu erfüllen.“ Wenn Leon seinen Vater „man“ sagen hört, könnte er jedes Mal ausrasten. Er kennt die moralischen Ansichten und Ansprüche seines Vaters. Er kann nicht darüber diskutieren. Das drückt er mit seinem „man“ aus. Sobald dieses Wort ins Spiel kommt, handelt es sich für seinen Vater um eine unumstößliche Regel. Trotz dieser Erfahrung beginnt Leon zu schreien. „Was heißt denn hier ‚man’, es geht um mich. Ich will dort nicht hin, um mich untersuchen zu lassen, ob ich tauglich bin, wie das schon klingt! Und dann diese Psychotests. Ich sehe es nicht ein.“ „Jetzt hör mir gut zu mein Sohn,“ auch Josef wird lauter, „du wirst dort hin gehen wie jeder andere in deinem Alter auch. Stell dich nicht so blöd an. Es handelt sich um einen Tag. Das wirst du doch aushalten. Du machst es für uns, für die Gesellschaft, für den Staat, und es ist deine Pflicht.“ Leon merkt, mit Josef ist darüber nicht zu reden. Es geht ihm ja gar nicht darum, nicht hinzugehen. Es geht auch ihm ums Prinzip. Wie kommt er dazu, sich einer Kommission zu stellen. Ja, er würde der Aufforderung des Staates Folge leisten wie alle seine Altersgenossen, aber warum darf er, verdammt noch mal, nicht einmal in seiner eigenen Familie darüber reden? Was ist da bitte dabei? Leon versteht seinen Vater nicht. Er vertritt doch sonst auch Offenheit, Toleranz, Meinungsfreiheit. Maria versucht zwischen Vater und Sohn zu vermitteln: „Hör zu Leon, dein Vater hat sich für diesen Staat sehr eingesetzt. Dass die Gesetze so sind, wie sie heute sind, ist nicht selbstverständlich. Es war ein oft wirklich zäher und harter Kampf für ihn und seine Partei. Er hat viel erreicht, noch lange nicht alles, und nun weigerst gerade du dich, zur Musterung zu gehen.“ „Ich weigere mich ja nicht, ich denke nur, da könnte es auch noch andere Möglichkeiten geben. Da werde ich von einer Kommission begutachtet, ob ich tauglich bin. Ich komme mir vor wie ein Stück Vieh.“ „Jetzt mach aber einen Punkt. Dein Selbstmitleid ist nicht auszuhalten.“ Der Vater wirkt jetzt fast bedrohlich, so wie er vor Leon steht. „Was schlägst du denn als Alternative vor? Du hast ja keine Ahnung, wie es in meiner Jugend war. Da wurde ich zum Kampf mit der Waffe ausgebildet, und dem Staat war es egal, was in den Familien geschah, da war wirklich alles möglich. Das Militär ist zum Glück abgeschafft. Heute geht es um einen minimalen Schutz der Kinder in den Familien, ja und um unsere Zusatzrente. Du weißt genau, die bekommen wir nur mit der Bestätigung der Kommission, dass es dir psychisch und körperlich gut geht, und wir unsere Pflichten als Eltern erfüllt haben.“
Berichte von Außerirdischen 1.Bericht
Auf der Erde trafen wir auf eine Frühform unserer Gattung. Es war wie
eine Zeitreise zu unserer eigenen Geschichte. Natürlich fehlt noch die
exakte wissenschaftliche Auswertung unserer Untersuchungen. In diesem
Bericht werden vorerst nur unserer subjektiven Beobachtungen
festgehalten. 2.Bericht Uns interessierte vor allem die Frage, wie es dem Hund gelungen war, den Menschen zu unterwerfen. Durch Einzelbeobachtungen, Beobachtung verschiedener Regionen und vorläufiger Analyse, wobei das Material noch statistisch ausgewertet werden muss, erkannten wir beträchtliche Entwicklungsunterschiede der erfolgreichen Ausnützung des Menschen. Es konnte festgestellt werden, dass der Hund vorrangig psychologische Eigenheiten, wie zum Beispiel Liebesbedürftigkeit des Menschen erkennt, und sich diese geschickt zu Nutzen macht. Auf einer niedrigeren Entwicklungsebene stellt sich der Hund scheinbar als Helfer und Beschützer zur Verfügung. Die spezifischen Charaktereigenschaften des Menschen dienen ihm dazu. Er beschützt scheinbar den Besitz des Menschen. Der Mensch hat die Eigenschaft, Besitz vermehren zu wollen. Dieses „Besitz vermehren“ ist die treibende Kraft des Menschen, die ihn zu Höchstleistungen anspornt. Der angespornte Mensch erledigt alles Weitere in Eigenregie. Er versucht Macht über andere Menschen zu gewinnen und entwickelte dazu verschiedenen Strategien. Zur Absicherung dieser Macht dient ihm ein Organisationsgefüge, dass er Staat nennt. Der Mensch konditioniert andere Menschen und diese schaffen dann Wohlstand und Reichtum für den Hund. Man könnte annehmen, der Mensch gäbe sich damit zufrieden, aber dem ist nicht so. Er ist immer beschäftigt. Der einzige wirkliche Nutznießer ist der Hund. Der Hund bewohnt das Haus, während der Mensch arbeitet, dem Hund wird alles, was er zu seinem Wohlbefinden braucht, zur Verfügung gestellt. Warum sich der Mensch derartig für den Hund abrackert, ist uns noch immer rätselhaft - wuff, wuff, wuff
Das Geheimnis der Superfrauen Es ist jeden Tag das gleiche. Anna steht vor den Betten ihrer Kinder, und selbst wenn sie eine Arie mit der Stimme einer Opernsängerin sänge, ihre Kinder würden ruhig weiter schlafen. Es kostet Anna ungeheure Überwindung, sie zu wecken. Zuerst versucht sie es mit sanften Berührungen, aber auch heute nützt nur heftiges Rütteln. Es ist eine Qual. Sie selbst steht um fünf Uhr auf, um ab sechs nur mehr für ihre Kinder da zu sein. Das Frühstück steht auf dem Tisch. Die Jausenbrote sind gemacht. Es ist halb sieben. Um sieben sollen sie spätestens das Haus verlassen, denn mit dem morgendlichen Stau muss sie rechnen. Ihre Kinder, Sebastian und Mona, sind noch immer sauer auf sie, denn der seit Wochen versprochene Kinobesuch, wurde auch gestern nicht eingelöst. Anna weiß, dass es nicht nur um den Kinofilm geht. Die Kinder fühlen sich vernachlässigt und das mit Recht. „Wo ist mein Batman T-shirt?“, schreit Sebastian aus dem Kinderzimmer. „In der Schmutzwäsche!“, brüllt Anna zurück. „Du wolltest es doch waschen.“ Anna merkt, dass sie vergessen hat, die Waschmaschine einzustellen. Es war bereits elf Uhr, als sie zu Bett ging. Sie musste noch das Seminarprogramm fürs Wochenende zusammenstellen. Anna geht in Sebastians Zimmer, um ein anderes passendes T-shirt zu finden, mit dem bereit gelegten ist er unzufrieden. Es herrscht wildes Chaos, und Anna weiß, dass es für den Fünfjährigen allein unmöglich ist, wieder Ordnung zu schaffen. Auch das schiebt sie seit Wochen vor sich her. Sie hat die Stunden nicht, die sie nur für das Ordnen der Legosteine bräuchte. „Ich brauch mein Buch.“, schreit Mona und sucht verzweifelt im aufgestapelten Papierstoß auf dem Couchtisch. Sie verdächtigt ihre Mutter zu Recht, es einfach unter den Kram versteckt zu haben. Auch heute wird es wieder Viertel nach sieben. Nachdem Anna ihre Kinder im Kindergarten und bei der Frühaufsicht der Schule abgeliefert hat, und ihnen noch immer nicht gesagt hat, dass sie am Wochenende arbeiten muss, steht sie im Stau auf der Autobahnausfahrt, wieder zu spät und voll innerer Unruhe. „So kann es nicht weiter gehen.“, denkt Anna. „Ich bin eine Versagerin, im Beruf und vor allem als Mutter.“ Sie könnte auf der Stelle hundert Dinge aufzählen, die nicht so hinhauen, wie sie es sich wünschen würde. Sie sollte zur Bank, das Auto in die Werkstätte bringen, endlich wieder einmal etwas Gutes kochen, für sich und Mona einen Friseurtermin ausmachen. Mona wünscht sich schon so lange eine bunte Strähne im Haar. Immer macht sie ihren Kindern Zusagen und hält diese nicht ein, oder es dauert Wochen und Monate bis sie sie einlöst. Sebastians Geburtstagsparty gehört organisiert und so weiter. Aber am meisten macht Anna ihre Stimmung zu schaffen. Sie ist nicht die gut aufgelegte, heitere Mutter, die sie immer sein wollte. „Die Kinder erzählen nichts mehr aus der Schule und aus dem Kindergarten, weil sie sich schon daran gewöhnt haben, dass ich nicht zuhöre“, denkt sie „Ich sage das Seminar ab“, nimmt sich Anna vor. „ Richard wird Kopfstehen, aber es ist auch schon egal.“ Niemand verlangt von ihr Punkt acht im Büro zu sein, aber in ihrer jetzigen Situation wäre es ausgesprochen vorteilhaft, wenn sie zumindest ab und zu schon an ihrem Schreibtisch sitzen würde, bevor Richard, ihr Chef jeden Tag pünktlich, denn er fährt mit dem Rad, im Büro erscheint. Sie ist nämlich die einzige der MitarbeiterInnen, die täglich pünktlich um 16 Uhr 30 das Büro verlässt, denn sie muss spätestens um 17 Uhr bei Kindergarten und Hort gewesen sein. Es gibt keine andere Möglichkeit. Die anderen bleiben regelmäßig viel länger im Büro, denn aller Verdienst und auch der ihres Chefs ist von den Umsätzen, die sie machen, abhängig. Annas Umsatz ist entsprechend gering, das ist ihr klar. Viele notwendige Termine gehen sich bei den Managern der Firmen, für die sie als Beraterin tätig ist, erst in den Abendstunden aus. Sie ist noch kein Defizit für die Firma, aber eine unabhängige Person könnte sicher um ein Drittel mehr Umsatz schaffen, das ist ihr und ihrem Chef klar. Er hat sie nur deshalb noch nicht gekündigt, weil er trotz allem auch eine soziale Ader besitzt, ihre Situation kennt, und mit der Qualität ihrer Arbeit zufrieden ist, aber wie lange noch würde er Verständnis haben? Sie kann es sich zum Beispiel nicht erlauben, zu Hause zu bleiben, falls ihre Kinder krank sind. Zum Glück gibt es für diesen Fall ihre Mutter, die im Notfall den Nachtzug aus ihrem Heimatort nimmt. Wie eine tägliche Gebetsmühle gehen Anna jeden Morgen diese Gedanken im Kopf herum. Bevor sie wieder einige Meter weiter fahren kann, wirft sie einen kurzen Blick in den Rückspiegel, und sie erstarrt, denn was sie sieht, ist ihr rätselhaft. Genau im Auto hinter ihr, ein blauer Golf, sitzt eine Frau am Steuer, die Anna verblüffend ähnlich sieht.- besser gesagt sie schaut aus wie Anna! Sie hat die Haar wie sie aufgesteckt, sie trägt das gleiche Shirt, das doch ein Einzelstück ist, sie hat scheinbar die gleiche Jacke über die Lehne Beifahrersitz gelegt und sie hat ihr Gesicht, und jetzt hat sie auch noch ihr Lächeln um den Mund, dass Anna schon lange nicht mehr im Spiegel gesehen hat Trotz des Schocks, oder gerade deshalb, reagiert Anna wie ferngesteuert, blickt wieder nach vorne und fährt weiter. Als sie endlich kurz vor der Ampel steht und wieder in den Rückspiegel schaut, ist die Frau samt Auto verschwunden. „Ich habe Halluzinationen“, denkt sie „Ein psychischer Knacks, das würde gerade noch fehlen.“ Natürlich ist Richard schon im Büro, als sie kommt. „Anna, wir müssen irgend wann miteinander reden“, sind seine Begrüßungsworte, und Anna ist klar, es ist so weit, er wird ihr nahe legen, sich einen anderen Job zu suchen, einen bei dem die Arbeitszeiten geregelt sind, zu ihrem eigenem besten, wird er sagen. Sie verspürt Ärger, denn sie weiß, dass auch er weiß, dass dies nicht so einfach ist. Niemand wartet auf eine allein stehende Frau mit zwei kleinen Kindern. „Wenn ich das Seminar auch noch absage, ist die Sache besiegelt.“, denkt sie nur mehr. Auch an diesem Tag macht sie keine Mittagspause, obwohl ihr klar ist, dass gerade die Gespräche unter Kollegen in den Pausen, oder nach der Arbeit bei einem Bier, die wichtigsten sind. Da tauscht man Informationen, bespricht Probleme, findet Unterstützung, aber sie hat keine Zeit dafür. Als die anderen das Büro verlassen, und in die Pizzeria nebenan gehen, auch Richard ist gerade von einem Termin zurückgekommen und schließt sich an, bleibt Anna allein zurück. Beim Löffeln ihres Yoghurts wird ihr plötzlich klar, dass es so nicht weiter gehen kann. Der Gedanke, eine Zeitlang arbeitslos zu sein, gefällt ihr sogar, denn da würde sie endlich die Zeit haben, die sie sich für sich und ihre Kinder wünscht, aber was wäre danach? Ihr Job ist gut bezahlt, trotz der relativ niedrigen Umsätze, die sie bringt. Sie würde nichts dergleichen finden, denn in der Branche geht es nicht ohne Wochenenden und Abendtermine. Die wenigsten Firmen lassen ihre Mitarbeiter während der Arbeitszeit coachen. Mit Benjamin, ihrem geschiedenen Mann, ginge es ihr nicht besser, sondern schlechter. Er hätte sie und die Kinder nie erhalten können, sein Geld reichte nicht einmal für seine Bedürfnisse, und dass er umwerfend aussah, war ihr bereits nach der Geburt ihrer Tochter nicht mehr aufgefallen. Trotzdem bekam sie ein zweites Kind, denn das war es, was sie sich immer gewünscht hatte, mindestens zwei Kinder. Sie war ein Einzelkind gewesen, und obwohl sie wusste, dass ihre Einsamkeit als Kind nicht nur darauf zurückzuführen ist, sondern hauptsächlich auf die ewigen Streitereien ihrer Eltern, ist der Wunsch, eine Schwester oder einen Bruder zu haben so tief in ihr eingebrannt, dass sie ihn sich zumindest über ihre eigenen Kinder erfüllen wollte. Ihr war das klar gewesen, und trotzdem konnte sie nichts dagegen tun. Es war auch richtig so für sie, denn das Schönste und Wichtigste in ihrem Leben sind ihre Kinder. Nur Benjamin, eigentlich ihr drittes Kind, wurde ihr zu viel dabei. „O. k.“, sagt sich Anna „Es wird schon irgendwie weiter gehen.“ Als Richard wieder von der Pizzeria kommt, fragt er sie, ob sie morgen zu der Firmenfeier eines wichtigen Kunden kommen würde. „Ich werde es versuchen“, mehr kann sie ihm im Moment nicht sagen, obwohl sie weiß, dass sie morgen zu Monas Elternabend in die Schule muss, aber vielleicht geht es sich nachher aus. Als Anna Richard mitteilt, dass sie das Seminar am Wochenende nicht halten kann, runzelt er nur die Stirn: „Ich denke damit ist auch unser Gesprächstermin hinfällig.“, sagt er knapp, und Anna weiß, er ist so verärgert, dass er nicht mehr mit ihr reden will. Die Kündigung ist für ihn eine beschlossene Sache. Die Firmenfeier könnte sie noch retten, denn der Veranstalter ist mit Annas Arbeit äußerst zufrieden, und schließlich geht es um die Vertragsverlängerung. Aber es ist wie verhext, der Babysitter hat keine Zeit, und Anna lässt die Kinder sicher nicht allein zuhause. „Das war’s dann“, denkt Anna, „Hallo Arbeitslosigkeit.“ Es ist am Tag nach der Firmenparty, Samstag, die Kinder schlafen noch. Anna hatte es gestern trotz allem noch geschafft, sich mit den Kindern einen schönen Abend zu machen, der mit einem Film endete, den sie sich gemeinsam anschauten, und natürlich war es später geworden. Alle drei genießen diese Abende, an denen sie nicht ins Bett müssen, nur weil sie morgen früh aufzustehen haben. Das Telefon läutet. Es ist Laura, ihre Arbeitskollegin und Freundin. „Entschuldige den frühen Anruf, aber ich hab es nicht erwarten können, mit dir nach dem gestrigen Abend zu reden. Du warst umwerfend.“ „Was?“, kann Anna nur kurz einwerfen“, denn Laura sprudelt weiter. „Du hast unseren Auftrag um zwei Jahre verlängert, du hast allen Männern den Kopf verdreht, ohne die anwesenden Frauen vor den Kopf zu stoßen, und du hast Otto so charmant abblitzen lassen, was ihm alle Männer und Frauen von Herzen vergönnten, denn er hält sich für unwiderstehlich. Es war ein herrliches Schauspiel.“, Laura klingt begeistert. Anna ist sprachlos. „ Laura“, fragt sie nach einem stummen Moment ganz vorsichtig und zaghaft. „Laura, bist du sicher, dass ich gestern auf der Party war?“ Jetzt ist Laura für einen Moment sprachlos. „Anna, ist alles in Ordnung mit dir? Du kamst mir gestern schon so verändert vor.“ Laura klingt besorgt. „Nein, nein“, erwidert Anna schnell. „Mach dir keine Sorgen, bitte, es ist nichts, wirklich, ich bin nur gerade aufgestanden und noch verschlafen.“ „Ja, kann ich gut verstehen, nach dem gestrigen Abend“, antwortet Laura. „Jedenfalls war es toll, wollt ich Dir nur sagen, ruh dich aus.“ Laura klingt beruhigt. „Ja, danke.“ Anna legt auf. Sie bleibt eine Weile regungslos sitzen. Sie kann gar nichts denken. Ganz langsam beginnt nach einer Weile ihr Hirn zu arbeiten. Anna denkt an die Frau, die hinter ihr im Auto war. Sie hatte es als Täuschung abgetan. Die Frau sah ihr ähnlich, dachte sie, keine Frage, sie hatte zufällig das gleiche Auto, das gleiche Kostüm, die gleiche Frisur. Das kann vorkommen, dachte Anna. Damit war für sie die Erscheinung erledigt gewesen. Aber gestern war diese Person auf der Party, wo eigentlich sie hätte sein sollen, und was die ganze Sache vollkommen unerklärlich macht, sie, die Doppelgängerin, hatte sich offensichtlich für Anna ausgegeben und sogar ihre Freundin getäuscht. Anna beschließt, einen klaren Kopf zu behalten. Sicher würde sie über diese Frau mehr erfahren. Jetzt kann sie nur abwarten. Trotz allem gelingt es Anna ein ruhiges Wochenende zu verbringen. Sie lässt sich von Laura noch alle Details der Party erzählen, ohne ihr die Wahrheit zu erklären. Anna weiß nicht genau, warum sie so reagiert, aber sie spürt instinktiv, dass es besser ist, niemandem davon zu erzählen. Die Details der Party beruhigen Anna sehr. Die Frau wollte ihr offensichtlich nicht schaden, sondern im Gegenteil, sie hatte den denkbar besten Eindruck hinterlassen. Am Montag ist Anna wie immer so spät dran, dass sie Richard nicht mehr im Büro antrifft. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch und wundert sich darüber, dass sie von Isabell, der Sekretärin, nicht begrüßt wird, als diese in ihr Büro kommt. Werner und Rainer können es sich erlauben, nicht vor zehn zu erscheinen, da ihr Arbeitstag auch nie vor zehn endet. „Wie hast du es geschafft, heute schon um sieben da zu sein?“, fragt Isabell nebenbei. Anna schluckt: „Ich habe endlich eine verlässliche Hilfe gefunden, ein Au-pair-Mädchen, die Kinder mögen sie sehr.“ Anna ist selbst verblüfft über ihre spontane Antwort, aber unbewusst war sie auf die Frage vorbereitet gewesen. „Das freut mich für dich“, meint Isabell. Jetzt erst bemerkt Anna den Zettel auf ihrem Schreibtisch. Es steht eine Internetadresse darauf. Anna steckt den Zettel in die Handtasche. Als Richard ins Büro kommt, lächelt er Anna freundlich an. „Ich glaube, unseren Gesprächstermin können wir uns sparen“, sagt er freundlich. „Und danke, du weißt schon, wegen Freitag.“ Anna kann nur stumm zurück lächeln. Noch nie hatte sich Richard bei ihr für irgendetwas bedankt. Sobald Anna allein im Büro ist, tippt sie die Adresse in den Computer. Auf dem Bildschirm erscheint ein an sie gerichteter Brief. Liebe Anna! Ich kann nur so mit Dir in Kontakt treten. Ich bin deine Doppelgängerin, dein perfektes Selbst. Ich kann Dir keine Erklärung dafür geben, aber ich kann Dir versichern, dass ich nur zu Deinem Besten da bin. Du weißt, wo Deine Prioritäten liegen, und Du weißt, dass es unmöglich ist, all den Anforderungen gerecht zu werden. Somit hast Du die Voraussetzungen für mein Erscheinen erfüllt. Ich werde Dir all die Dinge abnehmen, für die du keine Zeit hast. Über diese Adresse erhältst Du alle wichtigen Informationen von mir. Natürlich musst Du Dein Wissen für Dich behalten. Willkommen im Klub der Superfrauen.
P.S. Richard hat am Wochenende selbst gecoacht, es war nicht mehr rückgängig zu machen, außerdem sollten wir ihn nicht zu sehr verwöhnen. Von deinen Unterlagen war er begeistert. Übrigens den Friseurtermin musst du selbst einhalten.
Anna glaubt ihren Augen nicht zu trauen. Sie liest den Brief immer wieder. Dann lehnt sie sich zurück. Sie will nachdenken, aber es fällt ihr nur ein, dass sie nachhause möchte und Ruhe braucht. Sie geht.
Anna ist bereits den dritten Tag zuhause. Sie hat Sebastians Zimmer aufgeräumt und Monas Kleiderschrank geordnet. Sie hat Balkonpflanzen besorgt und einen Blumenstrauß für den Küchentisch. Sie war mit ihren Kindern im Kino und sie waren beim Friseur gewesen. Sonst hat sie nichts Wesentliches getan, außer mit ihren Kindern geredet und gespielt, eigentlich das Wesentlichste und sie war gut gelaunt gewesen. Erst heute schaltet sie wieder den Computer ein. Es erscheint eine komplette Terminübersicht mit Berichten und Ergebnissen, alle sehr zufrieden stellend. Am nächsten Tag wagt sich Anna wieder ins Büro, fast pünktlich, doch niemand scheint sich zu wundern oder stellt Fragen. Ihre Abwesenheit scheint niemanden aufgefallen zu sein. „Gehen wir wieder joggen nach dem Essen?“, fragt Werner. „Joggen?“, sagt Anna. „Es hat gestern und vorgestern Spaß gemacht, oder?“ Werner schaut fragend. „Ja, sicher“, antwortet Anna schnell. Es fällt ihr ein, dass sie vor langer Zeit ihre Trainingssachen im Schrank verstaute, mit dem Vorsatz hin und wieder Laufen zu gehen, aber verwirklicht hat sie dieses Vorhaben nie. Wie selbstverständlich geht sie zu Mittag mit den anderen in die Pizzeria. Zum Essen bleibt ihr wenig Zeit, denn Werner drängt zum Aufbruch. „Gestern hattest du aber mehr Kondition“, meint Werner nach dem sie zehn Minuten gelaufen sind, und Anna bereits außer Puste ist. „Gestern ist es spät geworden“, erklärt Anna. „Verstehe“, und Werner lächelt. Nach dem Joggen denkt Anna verwundert; „ Warum, ist mir noch nie aufgefallen, wie sympathisch Werner eigentlich ist, und er hat wirklich schöne Beine.“ Auch am nächsten Tag geht Anna ins Büro, doch sie verschwindet um eins, denn sie will ihre Kinder abholen. Sie wollen in den Zoo. Anna gewöhnt sich verblüffend schnell an die neue Situation und sie ist damit zufrieden, eigentlich glücklich. Ihr perfektes Selbst, scheint sich nicht sehr von der ausgeglichenen Anna, die sogar jetzt für sich selbst Zeit hat, zu unterscheiden. Sogar ihre Kondition gleicht sich an, denn die Bewegung tut ihr gut. Zeit und Lust hat sie dafür. Sie geht mit ihren Kindern schwimmen, wandern und sogar Fußball spielen. Für sich selbst hat sie einen Yogakurs gebucht und sie geht so oft wie möglich mit Werner joggen. Es ist Samstag. Anna erwartet Laura und ihren Mann zum Mittagessen. Es macht ihr Freude für die Freunde zu kochen. Sie kommen pünktlich. Die Wohnung ist pikobello, der Tisch schön gedeckt, und auch die Kinder freuen sich über den Besuch. Laura schaut sich anerkennend um. Sie kennt Annas Wohnung, aber wo ist das gewohnte Chaos, und wo sind die nervigen Kinder. Die zwei sind nicht wieder zu erkennen. Sebastian zeigt den Gästen stolz die Ritterburg, die er am Vormittag gebaut hat, denn es ist so schön in einem aufgeräumten Zimmer zu spielen. Mona zeigt das Bild, das sie gemalt hat. Endlich ist ihr Schreibtisch geordnet und Zeichenblätter und Malfarben sind dort, wo sie hingehören. „Wenn wir die Sachen nicht mehr brauchen, hilft uns Mama beim wegräumen“, sagt Mona stolz, als sie von Laura für ihr nettes Zimmer gelobt wird. Laura blickt Anna verwundert an und schüttelt den Kopf: „Es ist unglaublich. Wie schaffst du das nur? In der Arbeit bist du spitze, als Mutter perfekt, deine Wohnung ist so gemütlich, und dabei bist du auch noch gut aufgelegt.“ Anna schaut auf Lauras schwangeren Bauch: „Ich würde es dir gerne sagen, aber ich bin sicher, du kommst selbst darauf.“
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